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„45 Kilo hat sich richtig angefühlt“

„45 Kilo hat sich richtig angefühlt“

Magersucht
Symbolbild Foto: imago

Mit einer Krankheit wie Magersucht geht man nicht hausieren: Umso eindrucksvoller, dass Elisa (22) ihre Geschichte Thüringen24 ganz offen im Interview erzählt. Bereits vor elf Jahren hat die Krankheit angefangen, sich zuerst in ihr Leben einzuschleichen – und es später zu bestimmen. Mit Hilfe einer umfassenden Therapie hat sich Elisa große Teile der Kontrolle zurückerobert. Die Redaktion hat, um ihre Anonymität zu wahren, ihren Namen geändert.

Was ist in den letzten zwei, drei Jahren bei Dir passiert?

Ich war dreimal in der Klinik. Im Anschluss war ich drei Monate unfreiwillig zu Hause, weil ich auf einen Therapieplatz warten musste. Erst danach bin ich in eine Wohngruppe gezogen, in der ich wieder in den Alltag zurück finden will und Betreuung habe.

Konnte Dir in der Klinik bereits geholfen werden?

Es hat dort nichts mit Alltag zu tun, aber ich bin froh, dass ich mit der Klinik angefangen habe. Ich hätte es sonst nicht geschafft. Also für den Anfang schon.

Ist es Dir selbst aufgefallen, dass mit Deinem Essverhalten etwas nicht stimmt?

Ich glaube ich war 14, als ich es gemerkt habe. Die ersten schrägen Gedanken hatte ich aber bereits mit 11. So mit 13 hat sich mein Essverhalten dann verändert. Ich habe mich stark mit meinen Mitschülern verglichen, ob ich dünner oder dicker bin und wie bestimmte Klamotten an mir aussehen. Es kamen immer mehr solcher Gedanken dazu. Noch bis vor einem Jahr hätte ich nicht gesagt, dass diese ungewöhnlich gewesen sind. Inzwischen schon.

Körperliche Unterschiede zu vergleichen ist in der Pubertät normal, oder?

Im Prinzip schon, aber es gab eine Lehrerin, die in diese Kerbe geschlagen hat. Ich bin mir sicher, dass mich dieser Satz von ihr seitdem verfolgt hat: „Ihr könnt nicht immer so schlank bleiben, wie ihr es jetzt seid“.

Das hat Dir Angst gemacht?

Ja, oh Gott, wie sehe ich denn dann aus, wenn ich älter werde?

Wie hast Du Dich selbst gesehen?

Ich würde sagen: größer, breiter, kräftiger. Wenn ich heute Klassenfotos anschaue, sehe ich, dass es nicht stimmt.

Diesen Blick hast Du aber erst im Nachhinein entwickeln können?

Ja, genau. Damals hat es sich so angefühlt, wie ich mir das eingeredet habe.

Gab es noch andere Erlebnisse?

Es gab nicht ein Erlebnis, sondern eher viele kleine. Kommentare zu meinem Essverhalten haben es eher noch verstärkt. Außerdem: mein Vater war Schichtarbeiter, der war oft nicht zu Hause während der Mahlzeiten. Und wir mussten immer für ihn etwas übrig lassen, dabei hätte ich mir manchmal gern noch was genommen. Ein Vielzahl von Kleinigkeiten also.

An welcher Stelle hast Du die Übersicht verloren?

Da kann ich mich genau dran erinnern. Da war ich 14. Und ich kam gerade von der Waage und habe mich selbst gefragt, wann ich denn endlich aufhöre damit. Aber da ist mir bewusst geworden, ich kann nicht einfach aufhören.

Wie schwer warst Du damals, Du warst ja sicher fast ausgewachsen?

Da hatte ich mein Ziel erreicht, das waren 45 Kilo.

Wie kommt man auf so eine Zahl?

Von einem Boddymaßindex wusste ich damals noch nichts. 45 Kilo hat sich richtig angefühlt.

Du hast Dich über die Waage regelmäßig kontrolliert?

Ja, meine Vorstellung von Gewicht war eine andere. Der Plan, war es zunächst, das Gewicht zu halten, diese 45 Kilo. Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr aufhören kann.

Das niedrigste Gewicht, das Du hattest war?

38 Kilo. Ich habe oft Sterne gesehen. Ich kam mir trotzdem noch dicker vor, als die anderen Menschen.

Haben Dich Freunde darauf aufmerksam gemacht?

Ja, in den Pausen, oder wenn ich wieder Süßigkeiten abgelehnt habe oder beim Mittagessen gesagt habe, ich habe keinen Hunger. Als ich mal ein Eis nicht wollte, sagte ein Freund: „na du kannst es doch gebrauchen“. Aber ich habe ihm nicht geglaubt. Ich dachte, ja klar, rede du nur!

Der Körper läuft auf Sparflamme, welche Auswirkungen hatte die Magersucht noch für Dich?
Dass ich Sternchen gesehen hab, habe ich schon gesagt. Das habe ich einfach ignoriert. Ich hatte auch keine Kraft mehr und war müde den ganzen Tag. So etwas wie Rennen oder Laufen ging gar nicht mehr. Immer habe ich gefroren, auch wenn es über 25 Grad waren.

Wie lief die Schule?

Ich frag mich im Nachhinein, wie, aber es ging. Ich habe noch Volleyball gespielt, aber irgendwann fehlte die Kraft. Ich konnte ein intensives Training nicht lange durchhalten.

Wann wurde Dir das erste Mal Hilfe angeboten?

Das hat sehr lange gedauert. Es war so, dass meine Eltern mit mir von Arzt zu Arzt gerannt sind. Sie haben eine Stoffwechselstörung oder etwas mit der Schilddrüse vermutet. Erst später haben sie mich gefragt, ob ich mal zu einem Therapeuten gehen würde. Innerlich habe ich mich dagegen gestäubt, aber dann doch eingewilligt.

Wie hoch war der Leidensdruck bei Dir selbst?

Ich selbst habe den gar nicht als so hoch empfunden, damals war ich 15.

Du hast Dich trotzdem durchgerungen?

Meinen Eltern zu liebe, sie haben sich große Sorgen gemacht. Ich bin mit der Diagnose Essstörung bereits zum Therapeuten, aber ich kann nicht mal mehr sagen, wie es zu dieser Diagnose kam.

War das Gespräch mit dem Therapeuten eine Erleichterung?

Nein, war es nicht. Ich habe noch nicht richtig verstanden, warum ich dort bin. Das hat noch Jahre gedauert. Bis zum Dezember 2014, da habe ich mich entschieden, ich muss in die Klinik. Ich habe während des Studiums gemerkt, so wird es nichts.

Hättest Du das Vergleichen an irgendeiner Stelle verhindern können?

Vielleicht, wenn ich rechtzeitig Hilfe bekommen hätte. Dafür hätte ich aber darüber reden müssen. Aber das habe ich nicht. Von allein kann man das nicht abstellen.

Und was passierte in der Klinik?

Zuerst gab es eine „Bestandsaufnahme“, dann wurden die Portionen festgelegt, bis ich einen BMI von knapp unter 18 erreicht hatte. Außerdem gab es verschiedene Therapieformen zur Unterstützung.

Was hast Du zu den Zeiten, als Du 38 Kilo gewogen hast, so am Tag gegessen?

Ich weiß nicht mehr genau, aber ich denke, nicht mehr als ein Apfel und ein Toast – als einziges am Tag.

Dann muss der Hunger irgendwann mal verloren gegangen sein?

Ja, das hat aber eine Weile gedauert. Das kam sehr schleichend.

Wenn der Hunger weg ist, muss man sich selbst daran erinnern?

Ja. Mein Tag ging ja nicht mit Frühstück, sondern mit Wiegen los. Er fing um so besser an, wenn es möglichst viel weniger auf der Wage war, als vorher. Aber richtig gut fing er nie an, denn eine „Essstörung“ gibt sich nicht zufrieden mit einfach „Abgenommen“. Es gibt immer neue gefährlich Ziele.

Wenn Du Dich immer dicker wahrgenommen hast, als Du warst, wie erklärst Du Dir das?

Das heißt Körperschemastörung und ist auch immer noch so. Ich habe, was das angeht, immer alles mit mir selbst ausgemacht.

Du musst das über den Verstand regulieren?

Okay, da gibt es diesen BMI. Und die Schlussfolgerung ist, dass ich bei bestimmten Werten wahrscheinlich noch dünner bin als andere.

Was war Dein wichtigster Schritt?

Mir bewusst zu werden, dass ich Hilfe annehmen muss und es auch zu tun.

Hilft der Kontakt zu anderen, die das gleiche Schicksal plagt?

In der Klinik eher nicht. Weil diese Einsicht nicht da ist, dass sich etwas ändern muss. Einige versuchen eher, so viel wie möglich zu schummeln beim Essen, verraten sich gegenseitig Tricks.

Du wolltest über Dein Essen Deinen Körper kontrollieren?

Ja, hauptsächlich über das Essen. Es wäre auch über Sport gegangen, aber das war mit der Zeit für mich einfach zu anstrengend, weil mein Körper nicht so viel Kraft hatte.

Was würdest Du jemandem empfehlen, der noch in der Anfangsphase einer Essstörung steckt?

Sobald einem an den eigenen Gedanken etwas komisch vorkommt, sollte man sich jemandem anvertrauen. Vor allem auch, dass man darüber nachdenkt, was einem andere sagen und nicht vermutet, dass man angelogen wird. Es macht ja keinen Sinn, angelogen zu werden. Auch wenn ich es selbst anders wahrnehme, warum sollte jemand behaupten, dass ich dünner bin, als alle anderen, wenn es nicht stimmt.

Was wünscht Du Dir?

Ich will da dran bleiben. Ich weiß, dass das noch ein langer Kampf wird. Es lohnt sich aber dran zu bleiben und sich vorzustellen, dass ich das Leben wieder genießen kann.

Wie schwer bist Du heute?

Das weiß ich gar nicht, ich werde verdeckt gewogen, denn es würde mir nicht gut tun, mit der Zahl konfrontiert zu werden. Ich weiß auch nicht wirklich, warum ich mir von so einer Zahl so den Tag versauen lasse. Aber diese Ziffer ist wie bei einem Thermometer: Bei zehn Grad brauche ich eine Jacke, bei 25 nicht. Das hat so etwas Greifbares, das funktioniert bei mir nicht mit einem Blick in den Spiegel, wie beim Blick auf die Waage.

Essen hat ja auch eine Geschmackskomponente, bei Dir nicht?

Ich versuche das so gut wie möglich auszublenden. Vom Genuss bin ich noch meilenweit weg. Aber wenn ich andere sehe, sehe ich auch, dass das wieder zu erreichen ist.

Und wie war das früher?

Also eine Naschkatze war ich nie, ich kann mir das aber auch nicht erklären. Als Kind habe ich wohl normal gegessen.

Wie ist der Kontakt zu anderen Betroffenen in der WG?

Der hat mir gut getan. Bei denen in der Verselbstständigungsgruppe zeigt es vor allem, was man erreichen kann. Hier kann man sich auch gegenseitig Mut machen. Das ist eine schönes Ziel.