Es geht um viel, vielleicht sogar um die Existenz der kleinen, streitbaren Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF). Ein seit Jahren schwelender Rechtsstreit zwischen der GdF, dem Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport sowie Lufthansa und Air Berlin ist in der letzten Instanz angekommen. Die Bundesarbeitsrichter in Erfurt wollen an diesem Dienstag entscheiden, ob die Spartengewerkschaft den drei Klägern Schadenersatz in Millionenhöhe für Hunderte Flüge zahlen muss, die wegen Streiks der Vorfeldlotsen im Februar 2012 ausgefallen waren. Und es geht um mehr – um das finanzielle Streikrisiko von Gewerkschaften. (Az.: 1 AZR 160/14)
Streikrecht ist Richterrecht
Denn Streikrecht ist Richterrecht in Deutschland – die Damen und Herren in den dunkelroten Roben in Erfurt definieren viele der Regeln. „Das wird eine wichtige Entscheidung“, sagt der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing. Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen gibt es zum Streikrecht kaum gesetzliche Vorgaben. Die Bedeutung der Rechtsprechung steige, meint Thüsing. „Es wird wieder mehr gestreikt.“ Das sei ein Phänomen in wirtschaftlich guten Zeiten. „Da gibt es etwas zum Verteilen.“
Airlines und Flughafenbetreiber bewerten die GdF-Streiks vor vier Jahren als rechtswidrig. Sie verlangen deshalb von der Lotsengewerkschaft nach Angaben des Bundesarbeitsgerichts Schadenersatz in Höhe von mehr als neun Millionen Euro. Allein die Fraport AG soll knapp 5,2 Millionen Euro geltend machen. Gewerkschaftschef Matthias Maas spricht sogar von Gesamtforderungen in Höhe von etwa elf Millionen Euro.
Es geht um Existenz
„Das wäre für eine Gewerkschaft mit knapp 4000 Mitgliedern existenzgefährdend, möglicherweise das Ende“, meint der Bremer Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler. Nach seiner Einschätzung und der von Thüsing sind die Arbeitsgerichte bei Schadenersatzforderungen gegen Gewerkschaften eigentlich „eher zurückhaltend“. Nach der bisherigen Rechtsprechung käme Schadenersatz überhaupt nur in Frage, wenn Streiks rechtswidrig sind.
Doch wann ist das der Fall? Auch damit wird sich der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts beschäftigen. Es geht um Detailfragen wie eine mögliche Verletzung der Friedenspflicht oder einen per Gerichtsentscheid gestoppten Unterstützungsstreik von Fluglotsen. Den hatte die GdF angekündigt, um ihren Forderungen für die Beschäftigten der Vorfeldkontrolle und der Verkehrszentrale mehr Nachdruck zu verleihen.
Zweifel am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Zudem hat Fraport Zweifel, ob der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ bei dem Arbeitskampf gewahrt war. „Wir werden sehen, ob das Bundesarbeitsgericht Verhältnismäßigkeitsgrenzen definiert“, sagt Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht der Universität Bonn.
Zumindest die Vorinstanzen in Hessen haben der Lotsengewerkschaft den Rücken gestärkt. Sie wiesen die Millionenforderung der Kläger ab. Allerdings ließ das Hessische Landesarbeitsgericht Interpretationsspielraum und ermöglichte eine höchstrichterliche Entscheidung. Bei einigen Forderungen der Gewerkschaft könnte die Friedenspflicht verletzt worden sein, heißt es. „Die Frage ist: Macht eine kleine faule Stelle den ganzen Streik kaputt?“, beschreibt ein Prozessbeobachter das Problem, vor dem die Richter stehen.
Kaum Chancen auf Schadenersatz
Kaum Chancen auf Schadenersatz haben nach Meinung von Däubler Lufthansa und Air Berlin. „Ich wundere mich, warum die Fluggesellschaften klagen. Sie haben keinen Anspruch, weil sie nur mittelbar Geschädigte sind. Das ist nach dem Bundesarbeitsgerichtsurteil vor einem Jahr eigentlich klar.“
Im August 2015 hatten die Bundesarbeitsrichter entschieden, dass Gewerkschaften nicht für die Folgekosten von Streiks bei Dritten haften müssen. Schon damals ging es um Tarifkonflikte der kämpferischen GdF. Fünf Airlines hatten sie wegen ausgefallener Flüge unter anderem nach einem Arbeitskampf auf dem Flughafen Stuttgart verklagt: erfolglos bis in die letzte Instanz.