Training für zehn Sportarten an sechs Tagen in der Woche – nervt dich das manchmal?
Nein, ich kenne es ja nicht anders. Zugegeben, manchmal bin ich schon ein bisschen neidisch auf meine Freunde. Aber ich weiß, wofür ich die Mühen auf mich nehme. Und das zählt. Außerdem ist es ja nicht so, dass ich überhaupt keine Freizeit habe.
Wofür bleibt denn Zeit, außer fürs Motorrad?
Den Führerschein habe ich gemacht, um an meine Trainingsorte zu kommen. Ich kann nicht alles im Landkreis Gotha trainieren. Zum Stabhochsprung beispielsweise muss ich nach Erfurt fahren. Ansonsten unternehme ich so viel wie möglich mit meinen Freunden.
Begleiten sie dich zu Wettkämpfen?
Nein. Ich glaube, das würde mich ablenken. Sie unterstützen mich anders: mit ihrem Verständnis und einer tollen Aufbauarbeit, wenn ich einen Misserfolg hatte. Zu den Meisterschaften und Wettkämpfen begleiten mich meine Familie und der Verein. Wir Sportler und die Teams kennen sich ja untereinander. Es fühlt sich schon gut an, wenn man – wie die prominenten Sportler – angeklatscht wird.
Hat deine Familie großen Anteil an deinen Erfolgen?
Ohne meine Eltern wäre ich niemals dorthin gekommen, wo ich jetzt bin. Sie richten ihr Leben nach mir aus. Als ich noch keinen Führerschein hatte, mussten sie mich überall hinfahren. Hinzu kommt der finanzielle Aufwand, zum Beispiel für die Schuhe. Ich brauche davon ständig sieben Paar, die etwa alle 18 Monate ausgetauscht werden müssen. Mit und ohne Dornen, Laufschuhe und so weiter.
Beste Voraussetzungen für Meisterleistungen. Kannst du dich an deinen ersten großen Sieg erinnern?
Na klar. Das war die Deutsche Meisterschaft. Als ich auf dem Siegerpodest ganz oben stand, habe ich gar nicht realisiert, was ich da eigentlich geschafft hatte. Das kam erst später. Für mich ein ganz großes, bedeutendes Ereignis.
Sieg und Niederlage liegen im Sport nah beieinander. Seit einiger Zeit kämpfst du gegen Verletzungen. Wie findest du den Weg aus dem mentalen Tief?
Indem ich trotzdem Spaß am Training habe, mir Etappenziele setze. Ich bin sehr ehrgeizig und ungeduldig, das macht die Dinge oftmals kompliziert. Ich habe aber gelernt, mich auch über kleine Erfolge zu freuen. Dass die Europameisterschaft nun ohne mich stattfindet, habe ich inzwischen akzeptiert. Glücklicherweise gelingt es mir trotzdem immer wieder, mich selbst zu motivieren. Ich kann alles schaffen, wenn ich nur genügend dafür aufwende – nach dieser Philosophie lebe ich. Natürlich sind Verletzungen ärgerlich, zumal nicht klar ist, weshalb das immer wieder passiert. Ich hoffe, dass die Ärzte das bald herausfinden und ich wieder uneingeschränkt trainieren kann.
Kannst du dir notfalls ein Leben ohne Sport vorstellen?
Das würde nicht funktionieren. Wenn ich verletzungsbedingt pausieren muss, bin ich unruhig und hibbelig. Ich habe dann zu viel Energie, weil mir der Sport als Ausgleich fehlt. Klares Nein.
Und wie geht’s jetzt weiter?
Ich gehe es langsam an. Habe gerade mein Abitur gemacht, jetzt freue ich mich auf mein Freiwilliges Soziales Jahr beim Kreissportbund Gotha. Danach möchte ich Psychologie studieren. Ich analysiere und diskutiere gern, finde diese Themen sehr spannend. Und ich denke, dass dieser Beruf gut zu meiner sportlichen Laufbahn passt.
Hintergrund
- Nils Wiesel, Jahrgang 1999, erbrachte 2014 bei der Deutschen Meisterschaft in Mainz sieben neue persönliche Bestleistungen. Darunter Top-Einzelleistungen wie 6,64 Meter im Weitsprung, 11,23 Sekunden über die 100-Meter-Distanz und 56,70 Meter im Speerwurf.
- Er stellte im Neunkampf mit 5783 Punkten einen deutschen Rekord auf. Außerdem ist er Rekordhalter im Block-Lauf mit 3052 Punkten.
- Weitere Rekorde: M14 Block-Lauf und Neunkampf (Neunkampf schon wieder gebrochen), M15 Block-Lauf und Neunkampf. Von M10 bis U18 weiterhin 14 bestehende Thüringer Landesrekorde.
- Nils startet für die LG Ohra Energie vom LV Gothaer Land, trainiert von Thomas Wandrei.
- Zum Zehnkampf gehören 100-, 400- und 1500-Meter-Lauf, Weitsprung, Kugelstoßen, Hochsprung, Hürdenlauf, Diskuswerfen, Stabhochsprung und Speerwerfen.