In einem kleinen Vorort von Jena trafen sich am Mittwochabend die Alternative für Deutschland und ihre Anhänger zu Vorträgen von den beiden Thüringer AfD-Landtagsabgeordneten Björn Höcke und Wiebke Muhsal. Thema: die Familien- und Bildungspolitik der Partei. Zwei Themen, bei denen man meinen könnte, dass eine dreifache Mutter und ein beurlaubter Lehrer sowie vierfacher Vater das Publikum begeistern könnten, endlich Kinder zu bekommen. Allerdings haben 80 Prozent der Zuhörer das gebärfähige Alter schon teilweise seit Jahrzehnten überschritten.
Treffpunkt an der Bundesstraße 88
Ich bin in der urigen Gaststätte „Goldenes Schiff“. Sie liegt praktischerweise direkt an der Bundesstraße 88, ist nicht nur verkehrstechnisch gut angebunden, sondern war auch so freundlich, der AfD einen Saal zur Verfügung zu stellen. Dieser ist an diesem Mittwochabend bis auf ein paar Plätze neben mir gut gefüllt. Rund 60 Personen wollen wissen, was Höcke und Muhsal zu sagen haben. Es ist der zweite Abend der AfD in Maua. Im Stadtzentrum von Jena kann sich die Partei nicht blicken lassen, denn dort gibt es Gegenproteste. Hier in Maua steht nur ein Polizeiauto in der Nähe der Gaststätte. Für die Innenstadt von Jena wäre eine halbe Hundertschaft nötig gewesen, um die Veranstaltung abzusichern.
Am Mittwochmittag hatte Höcke via Facebook ein „grundsätzliches und allgemeingültiges Pressemoratorium“ verkündet. Nichts solle mehr gesagt werden zu der neuen Parteispaltung in Baden-Württemberg. Gut, dachte ich mir, dann begebe mich eben unter die AfD-Anhänger, ohne mich als Journalist zu erkennen zu geben und lasse Kamera und Schreibblock zu Hause. Ich will wissen, was die AfD so umtreibt und wie so ein Abend bei der Partei auf mich wirkt.
Konservatives Familienbild
Beinahe komme ich zu spät. Fünf Minuten vor Beginn der Veranstaltung sind nur noch wenige Plätze frei. Ich habe mit weniger Andrang in dem kleinen Nest gerechnet. Doch vor der Tür der Gaststätte parkten nicht nur Autos mit einheimischen Kennzeichen. Es sind offensichtlich auch Menschen aus Leipzig, Berlin und anderen Orten angereist, nur um Höcke live zu sehen. Der AfD-Politiker des völkisch-nationalen Flügels polarisiert nicht nur mit seinen Reden. Er fasziniert offensichtlich auch einen Teil der Deutschen so sehr, dass sie einen weiten Weg auf sich nehmen, um ihn zu sehen.
Doch bevor Höcke seine Rede hält, muss das Publikum mit Wiebke Muhsal für eine halbe Stunde vorliebnehmen. Eine gute Rednerin ist sie nicht, mehrmals verspricht sie sich, sagt aber das, was die Menschen im Saal hören wollen. Die Zuhörerschaft, meist mit einem Bier vor sich auf dem Tisch, klatscht immer wieder Beifall zwischen ihrer Rede. Die blonde Frau, die in Jena Jura studiert hat und hier heute quasi ein Heimspiel hat, kommt gut an. Meine Tischnachbarn nicken immer wieder bei ihren Aussagen zum neuen Bildungsplan von der rot-rot-grünen Landesregierung. „Unser Leitbild ist die Familie aus Vater, Mutter und Kindern“, sagt Muhsal in Bezug auf homosexuelle Paare mit Kinderwunsch. Sie vergisst allerdings, dass ihre Politik auch ein Schlag ins Gesicht aller Alleinerziehenden ist. Diese werden im AfD-Familienbild überhaupt nicht berücksichtigt.
Höckes Milchmädchenrechnungen
Nach Muhsal wird der AfD-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Björn Höcke, angekündigt. Spontane „Höcke! Höcke!“-Rufe schallen durch den Saal. Bevor der Liebling des Abends über Bildungs- und Familienpolitik referiert, kostet er noch den Sieg über Thüringens Justizminister Dieter Lauinger vor dem Landesverwaltungsgericht aus (Thüringen24 berichtete). Als Lehrer kann Höcke mehr oder weniger glaubhaft seinen Zuhörern vermitteln, dass es um die deutsche Bildungslandschaft schlecht bestellt ist. Sein Fazit: Schuld sind Linke und Ausländer. Die Schüler hätten keinen Respekt mehr vor Lehrern, sagt Höcke.
Ich ertappe mich, wie ich dem AfD-Mann tatsächlich zustimmen muss. Disziplin und Fleiß lassen zumindest gefühlt nach. Doch dass daran ausgerechnet die Ausländer schuld sein sollen, dem kann ich aus eigener Erfahrung widersprechen. An meiner Schule gab es damals kaum Ausländer und der Respekt war vor den Lehrern am geringsten, die pädagogisch am wenigsten draufhatten. Die Lehrer, die auch gute Pädagogen waren, wurden respektiert.
Die Welt von Höcke ist einfach. „Im Jahr 1911 gab es bei 65 Millionen Einwohnern 11,3 Millionen Schüler und diese wurden von 235.000 Lehrern unterrichtet. Im Jahr 2001 hatte Deutschland bei 82 Millionen Einwohnern 8,67 Millionen Schüler, die von 545.000 Lehrern unterrichtet wurden. Und trotzdem verlässt ein immer größerer Teil unserer Schüler die Schulen, ohne ausbildungsfähig zu sein und ohne, selbst wenn sie ein Abitur in der Tasche haben, fähig für ein Studium zu sein.“ Nach dieser Milchmädchenrechnung hat das Schulsystem von heute komplett versagt. Höcke, der für solche scharfen Analysen im Kneipensaal von Maua heftigen Applaus erntet, lässt dabei geflissentlich weg, dass die Anforderungen an Auszubildende enorm gestiegen sind. Früher reparierten Schlosser und Mechaniker Autos. Mittlerweile müssen die Kinder in der Schule programmieren lernen und eine Ausbildung zum Mechatroniker machen, um die Autos von heute reparieren zu können.
„Der ist doch ein Linker“
Nach 45 Minuten brandet großer Applaus durch den Saal. In der ersten Reihe steht ein junger Kerl mit schnittigem Scheitel zuerst auf. Viele im Saal folgen und beklatschen den heute relativ brav und monoton gebliebenen Höcke. Zwischendurch sah es sogar fast so aus, als würde manch ein Zuschauer bei Höckes Rede einschlafen. Der Ton des Lehrers wirkte auf viele eher einschläfernd als einpeitschend. Der interessante Teil des Abends beginnt, denke ich. Die Frau hinter mir steht plötzlich auf und verlässt den Saal. „Siehste, die hat immer so zusammengezuckt, dass hat man ihr angesehen“, sagt eine Frau an meinem Tisch zu ihrem Mann. „Der hat es nicht gefallen, was Höcke gesagt hat, die ist Lehrerin, ich habe sie gefragt.“
Gleich die erste Frage wird an Höcke gestellt. „Was ist denn jetzt mit Baden-Württemberg“, fragt ein Mann mittleren Alters. „Die Partei steckt noch in der Kinderschuhen“, antwortet Höcke lediglich. Es ist ihm sichtlich unwohl, über das Thema zu reden. „Das ist doch ein Linker“, zischt der Mann neben mir zu und vermutet eine böse Absicht hinter der Frage, die sich derzeit sicherlich viele AfD-Anhänger stellen. Nach dieser Antwort ist die Zukunft der Partei kein Thema mehr. Es war ein Abend des Biedermanns. Die Bühne der Brandstifter steht in Erfurt auf dem Domplatz.